Familie Arthur Neu
Neu, Arthur * 18.06.1882 Y 15.12.1940 Gurs
Neu, Klara, geb. May * 04.04.1889 überlebt
Neu, Doris Trude * 29.05.1920 überlebt in USA
Neu, Babette (Betty), geb. Neu * 03.01.1860 Y 30.12.1942 Theresienstadt
Arthur Neu
* 18.06.1882 Y 15.12.1940 Gurs
Arthur Neu wurde am 18.06.1882 in Messel als Sohn des Samuel Neu und dessen Ehefrau Babette, genannt Betty oder Bettchen, geboren. Arthur besuchte das „Israelitische Institut” von Dr. Barnass in Pfungstadt und wohnte während seiner Ausbildung bei seiner Tante Sophie Herz, geb. Neu.
Die Familie Samuel Neu lebte seit 07.09.1895 in Langen in der Wallstraße 20 im eigenen Haus mit sieben Zimmern. Arthur Neu betrieb hier ein um 1840 von seinem Großvater gegründetes Vieh- und Ledergeschäft. Die Familie war sehr fortschrittlich und hatte schon 1910 einen der wenigen Telefonanschlüsse in Langen.
Am 13.07.1904 ging Arthur Neu als Metzger nach Karlsruhe. 1910 wohnte er wieder in der Wallstraße 20 in Langen.
Klara Neu, geb. May
* 04.04.1889 überlebt
Am 13. September 1913 heiratete Arthur Neu in Langen Klara May, die am 4. April 1889 in Roßdorf geboren wurde. Sie hatten eine Tochter namens Doris Trude.
Von 1913 bis 1928 wohnte Arthur Neu und seine Familie in der Wallstraße 17. Nach dem Tode seines Vaters im April 1928 zog er mit seiner Frau und Tochter zurück in sein Elternhaus, Wallstraße 20.
Mit dem Boykott jüdischer Geschäfte 1933 ging der Umsatz erheblich zurück, gegenüberdem Vorjahr um mehr als 90 %. „Schuld an diesen äußerst hohen Einbußen trug ein einzelner nationalsozialistischer Fanatiker, der mit seinem bösartigen Verhalten auch anderen Langener Juden großen Schaden zufügte. Dieser ,alte Kämpfer’ der NSDAP, Parteimitglied seit 1930 und SA-Mann seit 1933, wohnte in der Nachbarschaft der Neus. Seit dem 1. April 1933 überwachte er den Eingang zum Haus des Arthur Neu und schüchterte die Kaufwilligen soweit ein, dass auch die besten und treuesten Kunden mit der Zeit wegblieben“. (Heidi Fogel, Eine Stadt zwischen Demokratie und Diktatur, 1983)
Das Gesamtvermögen der Eheleute belief sich laut Entschädigungsakten auf 28.000 Reichsmark am 1. September 1935. Die ehemals gutgehende Vieh- und Lederhandlung wurde 1937 eingestellt.
Bei dem bösartigen Nachbarn handelte es sich um Peter Sehring; er arbeitete nach 1933 als Hausmeister in der benachbarten Wallschule und hatte hier auch eine Dienstwohnung.
1938 wurde er zum Lohn für seine „treuen Dienste“ in das Beamtenverhältnis übernommen.
Vom November-Pogrom 1938 war die Familie Neu besonders stark betroffen. Wieder tat sich der damals 49jährige Alt-Nazi Peter Sehring besonders hervor. Der hatte „seit 1933 keine Gelegenheit versäumt, jüdische Mitbürger zu schikanieren und zu misshandeln. Auf offener Straße hatte er Juden und politische Gegner der NSDAP mit einem Ochsenziemer bedroht, den er stets bei sich trug. Wenige Tage vor der ‘Reichskristallnacht’ hatte der Hausmeister den jüdischen Textil- und Schuhhändler Isaak Morgenstern … vor den Augen der Öffentlichkeit geohrfeigt und ihn mit einem elektrischen Stab misshandelt“. Bei der Zerstörung der Wohnung der Morgensterns war er der Rädelsführer. „Im Hause der Familie Neu machte er sich einer besonders ruchlosen Tat schuldig … Nun zertrümmerte er zusammen mit anderen die Wohnungseinrichtung der Neus. Die Gewalttäter zerschlugen das Mobiliar, zerschnitten Kleidungsstücke und Textilien und warfen die Trümmer schließlich in den Hof. Nachdem dies geschehen war, quälte der Hausmeister die damals 78-jährige Frau Neu, die allein zu Hause war, mit einem Gartenschlauch und sperrte die völlig durchnässte alte Frau anschließend trotz der kalten Novemberwitterung im Hof in einen Stall ein.“ (Heidi Fogel, Eine Stadt zwischen Demokratie und Diktatur, 1983)
Die Eheleute Neu waren zu diesem Zeitpunkt mit ihrer Bekannten Selma Blum auf Wohnungssuche in Frankfurt, nur die Mutter von Arthur war zu Hause. Als sie in Frankfurt von den Synagogen-Verbrennungen hörten, fuhren sie sofort nach Langen zurück und befreiten die alte Frau.
Trude Neu, verheiratete Noack, erzählte während ihres Besuches 1983 in Langen: „Am 10. November 1938 war meine 78jährige Großmutter alleine zu Hause. Viele Leute kamen ins Haus und haben alles zertrümmert, haben die Kleider zerschnitten und aus meinem Klavier Feuerholz gemacht, dann alles auf den Hof geworfen. Das Innere des Hauses war ein Trümmerhaufen. Möbel und Geschirr vollständig zertrümmert.“ Die zerstörte Einrichtung und Kleidung hatte einen Zeitwert von über 11.000 RM. Allein um die Trümmer abzufahren, musste die Familie an Philipp Herth 15 RM bezahlen.
Die Familie verbrachte die Nacht zunächst bei Bekannten. Als Frau Neu am nächsten Tag versuchte, ihre zertrümmerte Wohnung zu betreten, wurde sie daran gewaltsam gehindert.
Bereits im September 1938 mussten die Neus ihr Haus an den Landwirt Johann Friedrich Herth III. und Helene Herth, geb. Seipp, verkaufen. Bürgermeister Göckel zwang sie, „Haus und Garten zu einem Preis herzugeben, der bei der Hälfte des tatsächlichen Wertes lag“ (Heidi Fogel, Eine Stadt zwischen Demokratie und Diktatur, 1983, S. 210).
Arthur Neu wurde am 13. November 1938 in das KZ Buchenwald eingeliefert (Häftlingsnummer 29968), doch schon vier Wochen später (10. Dezember) wieder entlassen.
Am 12.11.1938 meldete sich die Familie nach Frankfurt a.M. ab. Sie hatten dort zwei Zimmer mit Küchenbenutzung in der Scheffelstraße 26 bei Frau Vogel gemietet. Letzte Frankfurter Adresse von Arthur Neu war der Reuterweg 44. Zwangsweise mussten sie die „Dego-Abgabe“ in Höhe von 3.380 Reichsmark entrichten.
Dego-Abgabe
Als Dego-Abgabe wurde die bei der Auswanderung zu leistende Abgabe an die Deutsche Golddiskontbank bezeichnet; sie wurde erhoben für transferiertes Geld und später auch für Umzugsgut. Sie betrug bereits im August 1934 65% der transferierten Gesamtsumme, stieg bis Oktober 1936 auf 81% und bis Juni 1938 auf 90%. Ab September 1939 betrug der Abschlag durchgängig 96%. Ab 01.01.1939 wurde auch die Mitnahme von Umzugsgut eingeschränkt. Nur zum persönlichen Gebrauch unbedingt erforderliche Gegenstände durften noch mitgenommen werden. Jeder, der auswandern wollte, musste vorher um Genehmigung nachsuchen und zu diesem Zweck alle auszuführenden Sachen in einem „Umzugsgutverzeichnis“ auflisten. Die Mitnahmegenehmigung wurde nur erteilt, wenn zuvor ein Betrag in Höhe des Anschaffungswertes für sogenannten Neubesitz (Sachen, die nach dem 31.12.1932 angeschafft waren) an die Deutsche Golddiskontbank überwiesen worden war. In Einzelfällen konnte die Abgabe bis zu 300% betragen.
Arthur Neu flüchtete im Mai 1939 in das Exil nach Belgien, seine Frau folgte ihm am 1. September 1939 mit dem letzten möglichen Zug. Für die Einwanderungsvisa mussten sie je 50 RM zahlen und bei der Einreise wurde ein weiterer Betrag von 4.000 belgischen Francs fällig.
Die geplante Emigration der Familie in die USA scheiterte, weil die Eheleute wegen der überstürzten Flucht nach Belgien die von Deutschland abgehenden Schiffspassagen nicht mehr nutzen konnten. Dadurch hatten sie schon 759,95 RM für die Schiffskarten verloren.
Die nach dem Pogrom neu angeschafften Möbel wurden von den Nazis beschlagnahmt, was einen weiteren Verlust von fast 6000 RM ausmachte.
Im Mai 1940 wurde Arthur Neu in das Internierungslager Gurs verschleppt. Arthur schrieb seiner Frau noch Briefe. Daraus konnte sie entnehmen, dass er Hunger hatte. Laut „Gedenkbuch“ starb er am 26. Dezember 1940, laut Gemeinderegister Gurs und Internationalem Suchdienst bereits am 15. Dezember 1940 im Alter von 58 Jahren im Hospital des Lagers.
Klara versuchte zunächst vergeblich, nach Frankreich zu fliehen. Als 1942 in Belgien die Deportationen begannen, lebte sie zwei Jahre in der Illegalität. Erst 1946 gelang es ihr, in die USA zu emigrieren.
In einer eidesstattlichen Erklärung schrieb sie: „Nach meiner Auswanderung aus Deutschland habe ich zunächst in Morlawelz in Belgien gelebt. Von dort siedelte ich zusammen mit meinem Ehemann im April 1940 nach Brüssel über. Nach der Deportierung meines Ehemannes und nach dem Einmarsch der Deutschen in Belgien versuchte ich, nach Frankreich zu flüchten. Ich gelangte aber nur bis zur Grenze und musste dann nach Brüssel zurückkehren. Bei diesem Fluchtversuch wurde ich von belgischen Soldaten verhaftet, die glaubten, dass ich eine Schmugglerin oder Spionin sei, und die mich mit Erschießen bedrohten. Erst als ich sie überzeugte, dass ich lediglich vor den Nazis fliehen wollte, ließen sie mich frei. Nach meiner Rückkehr nach Brüssel habe ich dann bis August 1942 in einem Zimmer in der Rue Emanuel Hill gewohnt. Um jene Zeit begann die Deportierung der Juden nach dem Osten. Auch ich erhielt im August 1942 von der Gestapo den Befehl, mich zum Transport einzufinden. Anstatt diesem Gestellungsbefehl Folge zu leisten, flüchtete ich in die Illegalität. Es gelang mir, bei einer Frau Mordant, Rue de Vondel 19, Unterschlupf zu finden. Dort lebte ich in einem kleinen Zimmer, in dem sich nur ein ganz kleines Fenster befand. Da ich in ständiger Gefahr war, entdeckt zu werden, wagte ich mich am Tage niemals aus dem Hause heraus, nur in der Nacht ging ich, wenn ich einen Arzt aufsuchen musste, auf die Straße. Ich war infolgedessen von der Umwelt völlig abgeschlossen und hatte keinen Kontakt zu anderen Menschen. Von meiner Verbergerin wurde ich nur kärglich mit Lebensmitteln versehen, da sie selbst nicht viel hatte und infolgedessen mir nur das, was etwa von ihr erübrigt werden konnte, abgeben konnte. Da ich außerdem aus religiösen Gründen nur koschere Nahrung zu mir nahm, habe ich praktisch in den Jahren, in denen ich so versteckt lebte, nur von Weißkohl, Rüben und gelegentlich Brot gelebt.
Während meines Aufenthalts bei Frau Mordant fanden wiederholt Razzien auf Juden statt.
Soweit ich hiervon vorher erfuhr, versteckte ich mich bei einer anderen Frau namens Marie Crokaert, die mich in ihrer Wohnung verborgen hielt, und bei der ich dann auf einem Bügeltisch schlief. Oftmals musste ich auch, um der drohenden Verhaftung zu entgehen, mehrere Tage lang mich im Keller des Hauses verstecken, in dem diese Frau Marie Crokaert wohnte. Mehrere Male gelang es mir nicht, die Wohnung der Frau Mordant vor der Durchsuchung zu verlassen, und ich habe mich dann, manches Mal mehrere Stunden hindurch, in einem eingebauten Schrank versteckt gehalten, vor den Frau Mordant einen anderen Schrank schob.
In der Zeit vom 7. Juni 1942 bis zu meiner Flucht in die Illegalität im August 1942 habe ich an meiner Kleidung den Judenstern getragen“.
Klara Neu emigrierte von Le Havre aus mit der SS Marine Flasher nach New York.
Das Schiff fuhr am 5. Juli 1946 von Bremen ab über Le Havre, wo Klara Neu zustieg. Sie erreichte am 15. Juli 1946 den Hafen von New York, wo sie im April 1967 starb.
Doris Trude Neu
* 29.05.1920 überlebt in USA
Arthur und Klaras Tochter Doris Trude Neu wurde am 29. Mai 1920 in Frankfurt a.M. geboren. Sie wuchs in der Wallstraße auf. 1931 war sie beim Kinderturnen im Verein „Vorwärts 1898“ bei einem Wettkampf die Siebte des Jahrgangs 1921 und ältere Kinder. Sie erlernte den Beruf der Kontoristin.
Bei ihrem Besuch in Langen 1983 erinnerte sich Trude: „Wir waren erst Deutsche, dann Juden, wie andere katholisch oder evangelisch waren … Und über Nacht hatten wir dann das Gefühl, das wir keine Deutsche mehr waren … Wegen Hitler musste ich die Schule in der Untertertia verlassen. Niemand durfte mit uns sprechen, sie hatten alle Angst. Man muss den Unterschied sehen zwischen denen, die uns gehasst haben, und denen, die Angst hatten.“
Trude war gelernte Kontoristin. Sie wanderte am 19. Oktober 1937 nach New York, 5701 Tilden Avenue, aus. In der Langener Zeitung erzählte sie 1983: „An einem Sonntag war ich in New York angekommen, am Montag fing ich an zu arbeiten, als Dienstmädchen, obwohl ich davon keine Ahnung hatte. Ich war ja erst zwanzig Jahre alt und ganz allein.“
Trude arbeitete bis 1973 im Verkauf. Als ihre Mutter, der sie die Überfahrt von Le Havre nach New York bezahlt hatte, zu ihr in die USA kam, arbeitete diese mit und häkelte Handschuhe. Um ein Heim zu haben, heiratete Trude einen deutschstämmigen Juden, doch die Ehe hielt nicht. Nach ihrer Scheidung heiratete sie einen Nichtjuden.
Babette (Betty) Neu, geb. Neu
* 03.01.1860 Y 30.12.1942 Theresienstadt
Die Mutter von Arthur, Babette Neu, genannt Betty, wurde am 3. Januar 1860 in Messel als Tochter von Herzl Neu und Made Neu geb. Neu, geboren. Sie heiratete am 22. November 1879 in Messel den „Rindviehhändler“ Samuel Neu.
Aus dieser Ehe gingen 3 Kinder hervor: Dora, Arthur und Martha. Seit dem 4. September 1895 lebte die Familie in Langen in der Wallstraße 20. Der Ehemann Samuel starb am 30.4.1928 in Langen.
Am 12.11.1938 zog Betty mit ihrer Schwiegertochter nach Frankfurt am Main. Später wohnt sie im Jüdischen Altersheim, Hermesweg 5-7. Ab 1. November 1942 lautete die Adresse offiziell „Gemeinschaftsunterkunft für Juden“, ein „Judenhaus“, in dem Verfolgte vor ihrer Deportation aus Frankfurt konzentriert wurden.
Von dort wurde Betty Neu am 18. August 1942 bei der siebten großen Deportation aus Frankfurt im Alter von 82 Jahren in das Durchgangs- und Konzentrationslager Theresienstadt verschleppt, wo sie vier Monate später ums Leben kam (30.12.1942).
Weitere Informationen finden Sie im Buch “Vergessene Nachbarn – Juden in Langen ca.1704 bis 1938”, Verlag BoD Books on Demand, Norderstedt, 2019, ISBN: 978-3-7494-9722-5
220 (S. 259), 221, 222