Ehemaliges Wohn- und Geschäftshaus
von Hermann Kahn
Wilhelm-Leuschner-Platz 19

Wilhelm-Leuschner-Platz 19 Bild: ca. 1980

Das Haus, in dem wir heute das “Tiepolo” finden, besteht eigentlich aus zwei Häusern. Im rechten Haus hatte bis vor wenigen Jahren der Kolonialwarenhändler Seipp sein Geschäft; in der linken Hälfte fanden wir das von Hermann Kahn.

Links sieht man Metzger Hermann Kahn vor seinem Geschäft stehen. Im Hof waren Schlachthaus und Stallungen. Rechts sehen wir den Kolonialwarenladen von Seipp.

Kahn betrieb hier mindestens seit 1900 eine Metzgerei mit Schlachthaus und Stallungen im Hinterhaus. Der Jude Kahn war in Langen gut integriert und seine Kunden kamen aus allen Schichten Langens. Seine Frau Franziska war die Stiefschwester des Seifensieders Markus Wolf aus der Hügelstraße und seine Tochter Mathilde war mit dem Metzger Bär aus der Obergasse verheiratet.

Der 1. FC Langen 03 Bild aus den Anfangsjahren

Die Kahns hatten zwei Töchter und zwei Söhne. Sohn Bernhard war aktiver Sportler. Während seiner kaufmännischen Lehre in Frankfurt lernte er den damals neuen Trendsport „Fußball“ kennen und gründete 1901 – 17-jährig ‒ hier in Langen zusammen mit Freunden den ersten Fußballclub unserer Stadt. Lange Jahre war er der 1. Vorsitzende des FCL 03 und daneben noch im Turnverein aktiv, für den er viele Auszeichnungen holte.

1937 starb Hermann Kahn. So erlebte er nicht mehr mit, dass am 9. November 1938 seine Wohnung – wie die aller noch in Langen lebenden Juden – in der sog. „Reichskristallnacht“ demoliert und geplündert wurde. Seine Frau Franziska verkaufte daraufhin ihr Haus an ihren Nachbarn Seipp und flüchtete nach Frankfurt. Von dort wurde sie im September 1942 in das Konzentrationslager Theresienstadt deportiert, wo sie im August 1943 starb.

Auch ihre Tochter Mathilde (verheiratete Bär) wurde von Frankfurt aus deportiert und 1942 im Vernichtungslager Sobibor ermordet. Von Tochter Bertha ist das genaue Todesdatum unbekannt; die Nazis verschleppten auch sie in ein Vernichtungslager. Ähnlich ging es dem Sohn und Fußballclub-Gründer Bernhard; er wurde am 23. Juli 1942 in Lodz ermordet.

Lediglich der Sohn Wilhelm Kahn überlebte die Nazi-Herrschaft. Seine Frau und seine Kinder konnten noch rechtzeitig Deutschland verlassen. Wilhelm wurde 1942 nach Theresienstadt deportiert und erlebte dort die Befreiung. Er kehrte nach dem Krieg für kurze Zeit nach Langen zurück, bevor er 1947 zu seiner Familie nach USA auswanderte.
Wilhelm Kahn war der einzige Langener Jude, der Deportation und KZ überlebt hat.

36 Juden starben im KZ
oder setzten ihrem Leben selbst ein Ende,
um diesem Schicksal zu entgehen.

Stadtkirche
Wilhelm-Leuschner-Platz

Stadtkirche Langen. Postkarte 40er Jahre?, Foto 70er Jahre

Wir haben die letzte Station unseres Alternativen Stadtrundganges erreicht und stehen vor dem „Langener Dom“ – ein Ort des Widerstandes gegen diese Nazi-Politik?

Leider nicht.

Schon die offizielle evangelische Kirche hatte sich mit dem Nazi-Regime erstaunlich gut arrangiert. Landesbischof Dr. Dietrich soll z.B. die „feierliche Eingliederung“ der evangelischen Jugend in die Hitlerjugend begrüßt haben. „Als gute evangelische Christen und treudeutsche Menschen“ sei man stolz, den Namen „des größten Deutschen, unseres Führers Adolf Hitler…“ zu tragen.

Und hier in Langen?

Pfarrer Wilhelm Seibert war seit 1933 Mitglied in der NSDAP und der SA. In letzterer war er besonders aktiv und wurde bald Obertruppenführer und Standartenpfarrer. Er trat als Nazi-Redner auf. Die politischen Kanzelreden sollen bei Seibert so über Hand genommen haben, dass selbst Mitglieder des Kirchenvorstandes lieber den Gottesdienst in anderen Orten besuchten.

Nazi-Pfarrer Seibert 1935

Nach dem Krieg wurde Seibert im Spruchkammerverfahren als Aktivist eingestuft und musste ein Jahr lang ein Mal wöchentlich Sonderarbeiten verrichten; er durfte auf Dauer kein öffentliches Amt bekleiden und erhielt fünf Jahre Berufsverbot als Pfarrer. 

Dafür kam 1956 Pfarrer Ziegler – ebenfalls ein Mann mit brauner Vergangenheit. Ziegler, war seit 1931 Mitglied der NSDAP und ab 1933 auch in der SS; in Hitlers Reich hatte er an führender Stelle ideologische Schriften verfasst. Schon früh schwadronierte er über „herrisches, adliges Blut“, über „nordisches Seelentum“ oder das Hakenkreuz „als Lebenssymbol, das den Tod überwindet“. Seit 1934 war er Schriftleiter der „Nationalsozialistischen Monatshefte“ und ab 1939 zusätzlich der Zeitschrift „Deutsche Volkskunde“. Nach dem Krieg wurde er dafür rechtskräftig verurteilt.

Pfarrer Ziegler

Ziegler verdankt seine Stelle in Langen ausgerechnet dem entschiedenen Einsatz von Martin Niemöller, einem der führenden Köpfe des evangelischen Widerstandes gegen Hitler. Was diesen zu dieser fragwürdigen Fürsprache veranlasste ist unklar.

Von Martin Niemöller stammen die selbstkritischen Worte, welche die Problematik des Widerstandes gegen Hitlers Nazi-Deutschland treffend beschreiben:

Als die Nazis die Kommunisten holten, habe ich geschwiegen;
ich war ja kein Kommunist.
Als sie die Sozialdemokraten einsperrten, habe ich geschwiegen;
ich war ja kein Sozialdemokrat.
Als sie die Gewerkschaftler holten, habe ich nicht protestiert;
ich war ja kein Gewerkschafter.
Als sie die Juden holten, habe ich nicht protestiert;
Ich war ja kein Jude.
Als sie mich holten, gab es keinen mehr, der protestieren konnte.

Sorgen wir dafür, dass das nie wieder geschieht. Lernen wir aus den Fehlern der Vergangenheit, um sie in Zukunft zu vermeiden. Mit dem Besuch dieses Alternativen Stadtrundganges sind Sie auf dem richtigen Weg.