Familie Anton Schiff

Schiff, Anton                            * 14.02.1875   Y 25.11.1941 Kowno

Schiff, Selma, geb. Lazarus    * 12.03.1874   Y 25.11.1941 Kowno

Schiff, Alfred                            * 25.05.1908      überlebt in USA

Schiff, Johanna                        * 25.05.1908   Y 01.10.1940 Brandenburg

Stolpersteine Rheinstraße 38

Verlege-Aktion 19. April 2008

Anton Schiff

* 14.02.1875 Y 25.11.1941 Kowno

Anton Schiff wurde am 14.02.1875 in Ortenberg/Wetteraukreis geboren. Er erlernte den Beruf des Schuhmachers und legte auch seine Meisterprüfung ab.

Selma Schiff, geb. Lazarus

* 12.03.1874 Y 25.11.1941 Kowno

Selma Lazarus wurde als zweites von fünf Kindern am 12. März 1874 in Langen geboren. Ihre Eltern waren Moses Lazarus und seine Ehefrau Johanna, geborene May. Sie unterhielten ein Trikotwarengeschäft in der Rheinstraße 6.

Seit dem 01.01.1939 musste Selma – wie alle jüdischen Frauen – den Zusatz “Sara” als zweiten Namen führen.

Am 27. Mai 1901 heiratete Anton in Langen Selma Lazarus und übernahm am 1. Juni desselben Jahres das Schuhgeschäft seines Schwiegervaters Moses Lazarus. Er verkaufte seit Oktober 1902 in der Rheinstraße 6 seine Schuhe und bildete auch Lehrlinge aus. 1906 beispielsweise bestand Wilhelm Clubberg seine Gesellenprüfung mit der Note gut.

Im Dezember 1904 verlegte Anton Schiff sein Geschäft in die Wassergasse 5. Seit April 1906 ist er Mitglied der Konsum- und Produktengemeinschaft Langen, seit 1911 im Gewerbeverein.

Ab November 1914 betrieb er sein Schuhgeschäft im eigenen Haus Rheinstraße. 38.

Am ersten Weltkrieg nahm er als Soldat teil. Seine Frau führte das Schuhwarengeschäft während des Krieges fort. Anton beteiligte, sich wie viele seiner Mitbürger, auch an der Kriegsfürsorge-Sammlung der israelitischen Religionsgemeinschaft in Langen.

Aufgrund der Boykottaufrufe ging sein Geschäft ab 1933 schlecht. Viele ehemalige Kunden blieben weg. Jahrelang zählte auch der Landwirt Göckel zu seinen Kunden, der jetzt als Nazi-Bürgermeister die Familie ebenso abrupt mied wie viele andere. 1936 entschloss sich daher Anton Schiff zur Aufgabe des Geschäftes. Er musste es am 14. Mai 1936 weit unter Wert verkaufen. Die Firma wurde „arisiert“ und an Christoph und Barbara Eisenbach abgetreten.

Die Familie Schiff zog nach Frankfurt, erst in die Stalburgstraße 6, dann in den Oeder-Weg 52 (Wohnung und Geschäft). Dort versuchte Anton Schiff erneut eine Schuhwerkstatt aufzubauen. Das kleine Geschäft wurde während des November-Pogroms 1938 von Nazis attackiert.

Eine Augenzeugin berichtete: „Als am 9. November der Zerstörungstrupp die Straße herunter kam, ließ der Eigentümer des Hauses, Herr Fleck, den Schaufensterrolladen herunter und versteckte Anton Schiff. Die Plünderer haben aber den Rolladen hochgedrückt und die Schaufensterscheibe eingeschlagen.

Sie haben in der Wohnung meiner Eltern auch Herrn Schiff gesucht, diesen aber nicht gefunden. Die Schuhreparaturwerkstätte selbst und das Lager sind damals nicht geplündert worden. Ich weiß aber, dass Herr Schiff die Schaufensterscheibe hat ersetzen müssen und dafür einen Betrag von ca. 500 RM gezahlt hat. Die Schustermaschine, das Schusterzubehör und das Leder sind von Herrn Schiff später nach und nach verkauft bzw. eingetauscht worden. Soviel ich weiß, ist im Zeitpunkt der Deportation der Eheleute davon nichts mehr vorhanden gewesen.“

Frau Fleck besuchte die Familie Schiff auch später noch und brachte ihnen Lebensmittel.

Die Firma wurde zum 11. Januar 1939 abgemeldet. Allein bei der Veräußerung des Warenlagers erlitt Anton Schiff einen Verlust von 5.000 RM.

Zwangsweise musste Anton Schiff die „Judenvermögensabgabe“ in Höhe von 1.750 Reichsmark entrichten. Zuletzt lebten die Familie in einer Vier-Zimmer-Wohnung im Mittelweg 46.

Selma Schiff wurde am 22. November 1941 im Alter von 67 Jahren zusammen mit ihrem 66-jährigen Ehemann Anton bei der dritten großen Deportation aus Frankfurt verschleppt. Laut Deportationsliste sollte der Transport nach Riga gehen, das bislang irrtümlich als Sterbeort galt und deshalb auch auf dem Namensfries der Gedenkstätte „Neuer Börneplatz“ aufgeführt ist. Der Transport erreichte jedoch seinen ursprünglichen Bestimmungsort nicht und wurde wegen Überfüllung des dortigen Ghettos nach Kowno (Kaunas, Litauen) umgeleitet, wo die Frankfurter Verschleppten, darunter wahrscheinlich auch Familie Schiff, am 25. November 1941 ausnahmslos ermordet wurden. Das Todesdatum für das Ehepaar Schiff wurde auf den 9. Mai 1945 festgesetzt.

Das Ehepaar hatte drei Kinder, Paula, Alfred und Johanna.

Paula Schiff

* 19.06.1902  Y 13.09.1925 Frankfurt

Paula Schiff  erlernte den Beruf der Kontoristin und lebte mit den Eltern in der Rheinstraße 38.
Die 23 Jahre alte Tochter wurde in der Nacht plötzlich krank. Sie wurde nach Frankfurt ins Hospital gebracht und starb am Sonntag, dem 13. September 1925, in der Blüte ihrer Jahre an Gehirngrippe.

Alfred Schiff

* 25.05.1908 überlebt in USA

Alfred Schiff und seine Zwillingsschwester Johanna Schiff kamen am 25. Mai 1908 zur Welt.

Alfred besuchte in Langen die Schule und machte dann eine Lehre zum kaufmännischen Angestellten. Er engagierte sich sehr für sein Hobby Fußball im 1. FC Langen. Als in der Nazizeit die Lage immer schwieriger wurde, zog er sich aus der Vereinsarbeit im 1. FC zurück.

Im Juni 1938 wanderte Alfred nach USA aus. Auf der „S.S. Washington“ erreichte er am 14. Juni 1938 New York. Er heiratete die in Frankfurt geborene Hanny Süßmann. 1940 wohnte das Paar in Marietta, Lancaster, Pennsylvania, East Market Street 13. Aus dieser Ehe gingen drei Kinder hervor.

1979 starb Hanny Schiff und Alfred heiratete ein zweites Mal.

1983 besuchte er auf Einladung der Stadt Langen noch einmal seine Heimatstadt und war stolz, dass er die deutsche Sprache und auch den Langener Dialekt noch so gut beherrschte. Er starb am 5. Januar 1994 in Fulton/Atlanta.

Johanna Schiff

* 25.05.1908 Y 01.10.1940 Brandenburg

Alfreds Zwillingsschwester Johanna lebte bis zu ihrem frühen Tod im Elternhaus. Als wir am 19. April 2008 einen Stolperstein für das jüdische Opfer Johanna Schiff verlegten, wussten wir noch nicht viel von ihrem Schicksal. Am 5. März 1941 soll sie, so die Meldekartei im Langener Rathaus, im Alter von 33 Jahren in Frankfurt gestorben sein. So steht es auf dem Gedenkstein am Alten Jüdischen Friedhof in Frankfurt und so steht es auch auf dem Stolperstein, den wir in der Rheinstraße verlegt haben. Doch diese Daten sind falsch.

Johanna wurde ein Opfer der Euthanasie. Wir entdeckten ihren Namen im Gedenkbuch der Todesanstalt Brandenburg. In diesem ehemaligen Zuchthaus sind 1940 fast 10.000 Menschen getötet worden. Im Gedenkbuch wird der 01.10.1940, (also fünf Monate früher) als Todestag angegeben. Die Todesursache: Gas.

Wie kam es zu dieser Falschmeldung?

Brandenburg war eine der ersten Anstalten auf deutschem Boden, in der Vergasungen durchgeführt wurden. Schon vorher hatte man Patienten von „Irrenanstalten“ per Spritze getötet. Nun war man auf der Suche nach einer effektiveren Methode, um möglichst viele Menschen mit möglichst wenig Aufwand zu ermorden. Jüdische Patienten, extra hierher verlegt, waren die Versuchskaninchen.

Ab Januar 1940 war man in Brandenburg bereit für Probevergasungen, nachdem zwei fahrbare Krematioriumöfen geliefert und eine spezielle Gaskammer – als Duschraum getarnt – installiert worden war. Man entschied sich für Kohlenstoffmonoxid (CO); nur Ärzte durften den Gashebel benutzen. Die genaue – sparsamste – Gasmenge wurde experimentell ermittelt. Zwischen Januar 1940 und September 1940 wurden hier 9.722 Menschen ermordet.

In einem Artikel von Monica Kingreen vom Fritz Bauer Institut aus dem Jahre 2003 in dem Buch „Psychiatrie in Gießen“ schreibt sie: “Am 25. Sept. 1940 wurden 125 jüdische Patienten aus Anstalten und Einrichtungen in Herborn, Merxhausen, Haina, Marburg, Hadamar, Marsberg, Eickelborn, Neu-Berich/Arolsen und Gießen gewaltsam in die Giessener Heil- und Pflegeanstalt gebracht. Diese diente als Sammelanstalt. Wenige Tage später wurden diese Patienten in die Tötungsanstalt Brandenburg transportiert und dort am 1. Oktober 1940 durch Gas ermordet.”

Ab Ende Februar/Anfang März 1941, also sechs Monate nach der (geheim gehaltenen) Tötung, trafen bei den Kostenträgern der Patienten Briefe aus der „Irrenanstalt Cholm, Post Lublin (Polen)“, eine Tarnadresse, die den „natürlichen Tod“ bescheinigten ein, in denen um Kostenübernahme inklusive der Kosten für die Einäscherung gebeten wurde. Diesen Briefen waren die Sterbeurkunden zur Weiterleitung an die Angehörigen beigelegt.

Unter den 126 Patienten befanden sich auch zwei Patienten aus Langen. Eine davon war “Schiff, Martha * 25.05.1908 in Langen” zuletzt wohnhaft in Frankfurt.

Hier handelt es sich offensichtlich um Johanna Schiff, Tochter des Schumachers Anton Schiff aus der Rheinstraße. Wieso der Name Martha verwendet wurde ist unklar; das Geburtsdatum stimmt überein. Johanna soll am 05.03.1941 gestorben sein; dies wäre das damals als offiziell ausgegebene (falsche) Todesdatum. Martha (Johanna) wurde aus der Heil- und Pflegeanstalt Herborn nach Gießen verlegt. Seit wann und weshalb sie dort war ist unbekannt.

Hinweise bekommen wir eher durch Zufall. Als wir im Staatsarchiv in Darmstadt die Akten der Zwangssterilisierten bearbeiteten, stießen wir auf den Namen Johanna Schiff. Demnach erkrankte Johanna im Juni 1933;  sie hatte Angst vor tätlicher Bedrohung ihrer Umgebung. Nach Ansicht ihres Zwillingsbruders Alfred erlitt sie einen Nervenzusammenbruch. Ob die Ursache ihrer Angst die Lebenssituation jüdischer Menschen nach der Machtübernahme der Nazis war, oder in persönlichen Problemen lag, wurde natürlich nicht ermittelt oder belegt. Die behandelnden Ärzte der Psychiatrischen Klinik in Frankfurt stellten die Diagnose Schizophrenie. Johanna kam in die Heil- und Pflegeanstalt Philippshospital Goddelau.

Dort wurde, wie damals bei allen Patienten üblich, sofort ein Antrag auf Unfruchtbarmachung gestellt. Ihr Vater widersprach zunächst, lenkte jedoch später ein, weil er nur so für seine Tochter die Möglichkeit einer Entlassung aus der Klinik sah. Am 02.11.1934 wurde die Unfruchtbarmachung in Mainz vorgenommen.

In der Zeit vom 04.11.1935 bis zum 27.01.1936 lebte Johanna in Frankfurt in der Hügelstraße 9. Sie kam nur kurz nach Langen zurück. Gemeinsam mit ihren Eltern und ihrem Bruder Alfred zog sie am 14. Mai 1936 wieder nach Frankfurt, diesmal in die Stalburgstraße 6.

Dann verliert sich ihre Spur. 1940 muss sie wieder in einer „Heilanstalt“ gewesen sein. Ob es dafür medizinische Gründe gab oder sie nur im Raster der Nazis war ist unklar.

Am 01.10.1940 wurde Johanna Martha Schiff in Brandenburg mit Gas ermordet.

Sie war das erste „Euthanasie-Opfer“ aus Langen.

Weitere Informationen finden Sie im Buch “Vergessene Nachbarn – Juden in Langen ca.1704 bis 1938”, Verlag BoD Books on Demand, Norderstedt, 2019, ISBN: 978-3-7494-9722-5

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